Der sprachliche Zugriff auf die außersprachliche Welt
Ein Thema, das mich schon immer fasziniert hat, ist die Benennung der Dinge. Die Welt um uns herum – außerhalb der Sprache – existiert unabhängig davon, ob wir die Gegenstände, Personen oder Handlungen darin durch einen sprachlichen Ausdruck identifizieren und somit darauf zugreifen. Wichtig ist dieser sprachliche Zugriff zunächst für unser eigenes Denken und in einem zweiten Schritt für die Kommunikation mit anderen Menschen.
Gedankliches Konzept
Bewegt man sich innerhalb ein und derselben Sprache, ist das gedankliche Konzept einheitlich. Die Auswahl, die bei der Benennung von etwas vorgenommen wird, ist allgemein verständlich. Spannend wird es, wenn eine zweite Sprache mit einem anderen gedanklichen Konzept hinzukommt – sei es, weil man zweisprachig aufwächst oder eine Fremdsprache lernt. Dann stellt man auf einmal fest, dass die andere Sprache auch andere Vorstellungen von der Welt mit sich bringt und anders auf die außersprachliche Welt zugreift, weil die Differenzierung eine andere ist.
Unterschiede zwischen Deutsch und Englisch
Kindern mit deutscher Muttersprache wird beigebracht, dass es bei der Nahrungsaufnahme einen Unterschied zwischen Mensch und Tier gibt: „Menschen essen, Tiere fressen“, obwohl die Tätigkeit als solche ja identisch ist. Für einen englischen Muttersprachler reicht hingegen mit „to eat“ konsequenterweise ein Verb aus.
Während im Deutschen sprachlich kein Unterschied zwischen Affen mit Schwanz und Affen ohne Schwanz gemacht wird, differenziert man im Englischen sauber zwischen „monkeys“ (Affen mit Schwanz) und „apes“ (Affen ohne Schwanz).
Farbspektrum
Für die (englische) Farbe „auburn“ gebrauchen wir im Deutschen die Umschreibung „rotbraun“, also eine Mischung zweier Farben. Farben eignen sich als Beispiel ohnehin gut, weil sie das theoretische Konzept des „sprachlichen Zugriffs auf die außersprachliche Welt“ ein wenig anschaulicher machen.
Das menschliche Auge kann bis zu 2,3 Millionen Farbtöne sehen und unterscheiden. Das Farbspektrum ist also enorm groß. Aber haben wir auch 2,3 Millionen Wörter für diese Farben? Mitnichten. Wir wählen also anhand unserer Sprache aus, auf welche Farbschattierungen wir zugreifen und wie wir sie benennen. Dieser sprachliche Zugriff auf die vorhandene Farbpalette ist willkürlich, wobei die Auswahl von der Welt, in der wir leben, und unserer kulturellen Prägung abhängig ist. Gibt es dort, wo wir leben, viel Grün? Dann haben wir sicherlich eine ganze Reihe von Wörtern für alle möglichen Schattierungen dieser Farbe. Leben wir dagegen in der Wüste, haben wir eher Bedarf an fein differenzierten Vokabeln, um die Beschaffenheit von Sand eindeutig zu benennen.
Doppelhaushälfte
Kommen wir zu einem meiner Lieblingswörter im Deutschen: der Doppelhaushälfte. Was mir so gut daran gefällt, ist das Doppeltgemoppelte – die Hälfte eines doppelten Hauses müsste doch eigentlich einfach ein Haus sein, oder?
Der englischsprechende Mensch kennt ein solches Haus als semi-detached, was ein weiteres Beispiel dafür ist, wie Sprache unser Denken bestimmt.
Der Haustyp an sich (also das Ding in der außersprachlichen Welt) ist ein und derselbe, aber das gedankliche Konzept bei der Benennung ist ein anderes. Im Deutschen konzentriert man sich auf die Hauseigenschaft „Hälfte“ – wohingegen der Fokus im Englischen auf der Eigenschaft „zur Hälfte freistehend“ liegt. Die Vorstellung ist also eine ganz andere. Im Englischen ist man durch die Bezeichnung semi-detached gedanklich viel näher an einem freistehenden (und somit höherwertigen) Haus dran.
Himmel und Hafen
Auch bei abstrakten Begriffen gibt es je nach Sprache einen unterschiedlichen Zugriff. Ob wir auf Deutsch in den Himmel schauen oder im siebten Himmel sind, macht sprachlich keinen Unterschied. Auf Englisch wird zwischen „sky“ und „heaven“ dagegen sehr wohl unterschieden. Das Gleiche gilt für Hafen: „harbor“ oder „port“ für die Schiffe und „haven“ im übertragenen Sinne für das, was wir im Deutschen „einen sicheren Hafen“ nennen würden.
Unsere Wahrnehmung
Warum ich das Thema so spannend finde? Ganz einfach: Wenn man einmal verstanden hat, wie eng unsere Art zu denken mit unserer Sprache verknüpft ist, bekommt man ein anderes Gefühl dafür, wie sehr unsere Wahrnehmung von der Sprache, die wir sprechen, bestimmt wird. Und es folgt außerdem daraus, dass man mit einer neuen Sprache immer auch eine etwas andere Art zu denken lernt.
Tatjana Heckmann
Übersetzerin für Englisch und Italienisch
Ich bin Fachübersetzerin und beschäftige mich beruflich hauptsächlich mit Texten im Bereich Maschinen- und Anlagenbau. Des Weiteren fertige ich als beeidigte Übersetzerin beglaubigte Übersetzungen von Urkunden und Verträgen an.
In der Rubrik et cetera schreibe ich über Themen aus meinem Berufsalltag und über alles, was mich an Sprache und Kultur darüber hinaus interessiert.