In bocca al lupo! Ins Wolfsmaul?

Spielende Wolfswelpen

Sprichwörter übersetzen

Nur wenige Dinge machen den Charakter einer Kultur so anschaulich wie Redensarten. Jeder kennt sie, man bekommt sie mit der Muttersprache sozusagen in die Wiege gelegt und im Großen und Ganzen gibt es für alle Lebenslagen das passende Sprichwort. Selbst wenn man nicht zu den Menschen gehört, die jederzeit eine treffende Redensart parat haben, gehören typische Redewendungen zweifellos zum kulturellen Erbe und jeder versteht normalerweise auch ohne weitere Erklärung, was gemeint ist. Das ist bei italienischen Sprichwörtern nicht anders.

Für Übersetzer und Dolmetscher ist dieser Teil der Sprache besonders interessant, aber nicht ganz unproblematisch. Da volkstümliche Lebensweisheiten sehr eng mit der jeweiligen Kultur verknüpft sind, ist es oft schwierig, sie adäquat zu übersetzen und ihre Kernaussage in einen anderen kulturellen Zusammenhang zu transportieren. Die Sprachwissenschaft spricht in diesem Kontext vom „sprachlichen Zugriff“ auf die „außersprachliche Welt“ oder anders gesagt: Etwas kommt sowohl in der einen als auch in der anderen Kultur vor, die Wahrnehmung und das damit verbundene gedankliche Konzept unterscheiden sich jedoch und somit auch die entsprechende Benennung. 

So sieht sich der Übersetzer oder Dolmetscher vor die Aufgabe gestellt, zu entscheiden, ob es in der Zielsprache eine Eins-zu-Eins-Entsprechung gibt (im europäischen Sprachraum häufig als sogenannte Lehnübersetzung vorhanden), oder ob eine Alternative gesucht werden muss, die zwar andere Begriffe verwendet, aber dasselbe meint. Funktioniert beides nicht, muss die Redewendung vollständig aufgelöst werden, weil die dahinterstehende Idee andernfalls in der Zielsprache unverständlich bliebe. Um diese Entscheidung in sprachlicher Hinsicht treffen zu können, müssen Übersetzer über ein hohes Maß an kulturellem Wissen in beiden Sprachen verfügen. Auch mit einem noch so umfangreichen Vokabelschatz allein ist es da nicht getan.

Beide Sprachen kennen dasselbe Sprichwort

Tutte le strade portano a Roma. // Alle Wege führen nach Rom.

Andare a Canossa. // Den Gang nach Canossa antreten.

Gli occhi sono lo specchio dell’anima. // Die Augen sind der Spiegel der Seele.

Roma non è stata costruita in un giorno. // Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.

Un male tira l’altro. // Ein Unglück kommt selten allein.

La speranza è sempre l’ultima a morire. // Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Le bugie hanno le gambe corte. // Lügen haben kurze Beine.

Amor vecchio non fa ruggine. // Alte Liebe rostet nicht. 

Il più saggio cede. // Der Klügere gibt nach.

Non c’è due senza tre. // Aller guten Dinge sind drei.

Chi ha il danno ha pure le beffe. // Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Sbagliando s’impara. // Aus Schaden wird man klug.

Dieselbe Aussage mit anderen Worten

Piove sempre sul bagnato. ≠ Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.

Occhio non vede, cuore non duole. ≠ Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

Acqua cheta rompe i ponti. ≠ Stille Wasser sind tief.

Quando si è in ballo bisogna ballare. ≠ Wer A sagt, muss auch B sagen.

Prendere due piccioni con una fava. ≠ Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Rendere pan per focaccia. ≠ Gleiches mit Gleichem vergelten.

Cane non mangia cane. ≠ Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.

Tanto va la gatta al lardo che ci lascia lo zampino. ≠ Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht.

Meglio un uovo oggi che una gallina domani. ≠ Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Non si può avere la botte piena e la moglie ubriaca. ≠ Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.

Chi va diritto non fallisce strada. ≠ Ehrlich währt am längsten.

Chi va piano va sano e va lontano. ≠ Gut Ding will Weile haben.

Chi primo arriva bene alloggia. ≠ Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

I pensieri non pagano gabelle. ≠ Die Gedanken sind frei.

Con la pazienza si vince tutto. ≠ Geduld ist eine Tugend.

Dove non ci sono capelli mal si pettina. ≠ Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche fassen.

Casa mia, casa mia, per piccina che tu sia, tu mi sembri una badia. ≠ Eigener Herd ist Goldes wert.

Tutto fa brodo. ≠ Kleinvieh macht auch Mist.

Fra il dire e il fare c’è di mezzo il mare. ≠ Leichter gesagt als getan.

All’ultimo tocca il peggio. ≠ Den Letzten beißen die Hunde.

Il marito si prende per la gola. ≠ Liebe geht durch den Magen.

Cadere dalla padella alla brace. ≠ Vom Regen in die Traufe kommen.

La superbia andò a cavallo e tornò a piedi. ≠ Hochmut kommt vor dem Fall.

Val più la pratica che la grammatica. ≠ Probieren geht über Studieren.

Chi dorme non piglia pesce. ≠ Morgenstund hat Gold im Mund.

La lingua batte dove il dente duole. ≠ Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über. 

Volere è potere. ≠ Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Ein Sprichwort in der einen Sprache, das es in der anderen nicht gibt

Morto un papa se ne fa un altro. 
Übersetzung: Stirbt ein Papst, ernennt man einen neuen.
Aussage: Niemand ist unersetzlich. 

Tra moglie e marito non mettere il dito. 
Übersetzung: Nicht die Finger zwischen Ehefrau und Ehemann stecken.
Aussage: Aus Ehestreitigkeiten hält man sicher besser raus.

Se gioventù sapesse, se vecchiaia potesse. 
Übersetzung: Wenn die Jugend wüsste, wenn das Alter könnte.
Aussage: Am besten lebt man im Hier und Jetzt.

Ognuno tira l’acqua al suo mulino. 
Übersetzung: Jeder lenkt das Wasser auf seine eigene Mühle.
Aussage: Jeder ist sich selbst der Nächste.

Wie geht man beim Übersetzen damit um?

Übersetzer müssen bei der Arbeit am Text zunächst einmal überhaupt erkennen, dass es sich um ein Sprichwort oder eine Redensart handelt. Denn ein Sprichwort muss als sprachliche Einheit im Ganzen übersetzt werden. Beim Zerlegen in die einzelnen Bestandteile ginge der Sinn unweigerlich verloren. 

In Italien wünscht man jemanden mit „in bocca al lupo“ demnach nicht wortwörtlich ins Wolfsmaul, sondern im Gegenteil viel Glück. Die Antwort lautet „crepi!“ Im deutschen „Hals- und Beinbruch“ steckt dieselbe Idee: um das Glück nicht herauszufordern, wünscht man jemandem das genaue Gegenteil des eigentlichen Wunsches. 

Auch in der Fachsprache kommen Ausdrücke vor, die nur als sprachliche Einheit funktionieren und die Übersetzer als solche erkennen und übertragen müssen. Es reicht also nicht aus, zwei Sprachen zu beherrschen – die profunde Kenntnis der jeweils anderen Kultur ist für professionelle Übersetzer und Dolmetscher ein nicht zu unterschätzender Teil ihres Sprach- und Fachwissens.

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Tatjana Heckmann

Übersetzerin für Englisch und Italienisch

Ich bin Fachübersetzerin und beschäftige mich beruflich hauptsächlich mit Texten im Bereich Maschinen- und Anlagenbau. Des Weiteren fertige ich als beeidigte Übersetzerin beglaubigte Übersetzungen von Urkunden und Verträgen an. 

In der Rubrik et cetera schreibe ich über Themen aus meinem Berufsalltag und über alles, was mich an Sprache und Kultur darüber hinaus interessiert.